Else Lasker-Schüler: Ein alter Tibetteppich

„Ein alter Tibetteppich“ ist eines der bekanntesten Liebesgedichte der deutschen Literaturgeschichte.

Es wurde 1910 von Else Lasker-Schüler veröffentlicht. In ihm vermischen sich Elemente der Moderne mit einer Begeisterung für fremde Kulturen, speziell orientalisch-asiatischer. In der heutigen Poesi-Gedichtanalyse wollen wir dem Ergebnis dieser Kombination ein wenig genauer nachgehen.

Kurze Auslegungen von Gedichten der deutschen und englischen Literaturgeschichte erscheinen regelmäßig auf diesem Blog. Diese und weitere Interpretationen werden auch bald als Lektürehilfen für Schüler, Studierende und andere Interessierte in der App verfügbar sein.


Else Lasker-Schüler: Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.

Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.


Interpretation des Gedichts von Else Lasker-Schüler

„Ein alter Tibetteppich“ dreht sich um einen konkreten Gegenstand, den titelgebenden Teppich. Er taucht auch direkt in der ersten der vier Strophen auf und wird mit dem Thema des Gedichts, der Liebe, in Verbindung gebracht: „Deine Seele, die die meine liebet / Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet“.

Die beiden eröffnenden Verse sind hinsichtlich der Machart des Objekts, um das es geht, ein besonderer Kunstgriff. Nicht nur vergleicht Lasker-Schüler subtil die Liebe als ein Gefühl der engen Zusammengehörigkeit wie der von Stoffmaschen des Teppichs („verwirkt“, V. 2). Sie lässt dieses Verwirktsein auch in die benutzte Sprache einfließen, wenn sie spielerisch-verliebt die Wortbestandteile „Teppich“ und „Tibet“ für das Kunstwort „Teppichtibet“ vertauscht. Im Bezug zum Titelwort „Tibetteppich“ wird der Chiasmus der beiden Wortteile zum formalen Symbol der beschriebenen Verbundenheit.

Für die Verknüpfung der Teppichfäden und übertragen der beiden Verliebten findet Lasker-Schüler in den beiden folgenden Strophen weitere Metaphern. Zunächst stammen sie aus dem Bereich der Astronomie: „Strahl in Strahl, verliebte Farben, / Sterne, die sich himmellang umwarben.“ (V. 3f.) Dann geht es wieder um die Maschen: „Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit / Maschentausendabertausendweit.“ (V. 5f.) Mit den Wörtern „himmellang“ und dem einen ganzen Vers bestreitenden „Maschentausendabertausendweit“ wird inhaltlich und – im zweiten Fall – silbentechnisch die immense Größe beschrieben, für die orientalische Teppiche bekannt sind. Dabei wird die Ausgedehntheit und Komplexität der durch den Teppich symbolisierten Liebe zu einer „Kostbarkeit“ (V. 5).

Eine ewige Liebe?

„Ein alter Tibetteppich“ endet in einer vierten Strophe, die einen Vers mehr hat als die vorherigen. Zu Beginn vergleicht die Sprecherin in ihr nun ihren Geliebten mit einem Teppichmotiv. Er ist ein „[s]üsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron“ (V. 7). Seinen Schlusspunkt findet das Gedicht in einer rhetorischen Frage: „Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl / Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.“ Mit dem Wort „buntgeknüpft“ führt Lasker-Schüler die Maschenmotivik bis in die letzte Zeile fort. Zudem scheint die Liebe nun endlos und ewig zu sein. Es ist nicht klar, wie lang der betrachtete Teppich existiert und die Sprecherfigur fühlt sich schon seit ewigen Zeiten geliebt.

Objekte aus dem Orient waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa kostbarer und seltener als heute. Wenn sie auch noch so groß sind, wie der suggerierte Teppich im Gedicht, kommt das einer Einzigartigkeit gleich. Diese Tatsache wie auch den so exotischen Vergleich mit dem „Lamasohn“ nutzt Lasker-Schüler für ihr Liebesgedicht aus. Auch wenn sein Thema heute etwas stereotyp erscheinen mag: Das Thema der ewigen und sich einmalig anfühlenden Liebe ist es nicht. Es ist ein Menschheitsthema.

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Foto: Pixabay

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