Goethe: Mächtiges Überraschen

Johann Wolfgang von Goethe: „Mächtiges Überraschen“

Goethe tat sich mit „Mächtiges Überraschen“ auch als Sonett-Dichter hervor.

Kurz nach der Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert schrieb Goethe, mitunter inspiriert durch die Sonettbegeisterung der Romantiker, eine zusammenhängende Reihe an Sonetten. Seit der Zeit Shakespeares war die Gattung eher verpönt, erlebte dann aber eine Renaissance zwischen 1800 und 1820.

Das erste Sonett der Goethe’schen Gruppe trägt den Titel „Mächtiges Überraschen“, ist ein intrikates Lehrstück ambivalenter Dichtung – und heute Gegenstand unserer Gedichtanalyse.

Kurze Auslegungen von Gedichten der deutschen und englischen Literaturgeschichte erscheinen regelmäßig auf diesem Blog. Diese und weitere Interpretationen werden auch bald als Lektürehilfen für Schüler, Studierende und andere Interessierte in der App verfügbar sein.


Johann Wolfgang von Goethe: Mächtiges Überraschen

Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale
    Dem Ozean sich eilig zu verbinden;
    Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen,
    Es wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.

Dämonisch aber stürzt mit einem Male –
    Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden –
    Sich Oreas, Behagen dort zu finden.
    Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale.

Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet,
    Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;
    Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.

Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;
    Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken
    Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.


Interpretation des Gedichts von Johann Wolfgang von Goethe

Dynamik ist das wohl passendste Schlagwort zur Beschreibung dieses Gedichts. Sowohl das beschriebene Naturereignis – ein Bergfluss, der aus einer hoch gelegenen Quelle zu Tale rauscht – als auch die zur Beschreibung verwendete Sprache sind dynamisch. Der ganze Text ist beherrscht von spannungsgeladenen Gegensätzen: „umwölktem Felsensaale“ und „Tale“ (Vv. 1/4) etwa oder „Die Welle sprüht, und staut zurück und weichet“ (V. 9). Die Komposition dieser Gegensätze beschreibt einen Vorgang, der mal intensiv ist, mal ruhig.

Der Fluss des Wassers, der in der ersten Strophe als Thema etabliert wird, scheint daher auch nur „unaufhaltsam“ (V. 4) zu sein. Erde und Stein, personifiziert durch die mythische Bergnymphe Oreas, hemmen seinen „Lauf“ (V. 8). Der dem ebenfalls menschlich wirkenden Fluss eigene Wunsch, sich „eilig“ (V. 2) mit dem Ozean zu verbinden, wird dadurch zunichte gemacht.

Die Unwägbarkeit des Lebens

Dieser Wunsch kann als eine Metapher für den Wunsch vieler Menschen nach einer Art Erlösung gelesen werden. Der Verlauf des Lebens, für den das ganze Gedicht als eine Art Symbol steht, verläuft aber nicht direkt und ohne Probleme zu einer solchen Erlösung. Es stehen Hindernisse im Weg, die manchmal „[d]ämonisch“ (V. 5) zu sein scheinen. Aber in ihnen können auch Möglichkeiten liegen, das suggeriert zumindest der zweite Teil des Gedichts.

Dort kommt das Wasser zwar nicht im Ozean an, aber ist zu einem „See zurückgedeichet.“ (V. 12) Dort „schwankt und ruht“ (V. 12) seine Welle zugleich, hat also zu einer gewissen Harmonie gefunden, in der sie immer noch sie selbst ist. Diese Harmonie wird universalisiert, wenn Goethe schreibt, dass sich „Gestirne“ (V. 13) in diesem See selbst spiegeln und so ein „neues Leben“ (V. 14), ein neues Miteinander von Himmel und Erde aus der Begrenzung der intensiven Dynamik des Flusses entstanden ist.

Idealismus – aber nicht ganz

Es ist möglich, diesen inhaltlichen Verlauf des Gedichts aus der Perspektive der deutschen idealistischen Philosophie zu lesen, die in den Jahren en vogue war, in denen Goethe „Mächtiges Überraschen“ und seine anderen Sonette schrieb. Diese Philosophie1Vertreter sind etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel („Phänomenologie des Geistes“) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling („System des transzendentalen Idealismus“) spricht häufig von einem Idealzustand des menschlichen Geistes, in dem dieser nicht mehr auf die Welt achtet, sondern nur noch sich selbst beschaut und so aus sich selbst heraus weise und frei wird.

Die letzte Strophe hat etwas von diesem Ideal, weil ja auch die Gestirne beschrieben werden, wie sie ihr „Blinken“ (V. 13) selbst beschauen. Aber – natürlich – ist dieses Ideal bei Goethe nicht ohne doppelten Boden. Denn der „Wellenschlag am Fels“ (V. 14) macht wiederum deutlich, dass dieses Blinken nie einheitlich zu erkennen ist, weil das Wasser die Sterne immer neu und anders spiegelt. Trotz einer ruhigeren Situation, die die Möglichkeit von selbstzufriedener Freiheit in sich trägt, ist die Unruhe am Ende des Sonetts also nicht gänzlich vergangen.

Foto: Pixabay

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