Reclams „Leseliste“

Die „Leseliste“ zeigt: Natürlich sind es nicht nur Gedichte wert, gelesen zu werden.

Literatur wurde und wird immer wieder flankiert von Kanondiskussionen.1Die finden übrigens nicht nur in passiv-aggressiven Tagesfeuilletons statt, sondern auch in der Literaturgeschichte. Ich empfehle unbedingt die Lektüre von Ezra Pounds ABC of Reading. Nicht zur Bestätigung von dessen Ansichten, sondern als Kampfansage an den Leser und die geschriebene Sprache. Mit der „Leseliste“, zusammengestellt von Sabine Griese, Hubert Kerscher, und Albert Meier, hat Reclam ein Buch für Studierende im Programm, die sich einer solchen aussetzt. 2020 wurde es aktualisiert.

Von Hildebrand bis Stanišić

Es ist in der oft unterschätzten grünen Reihe des Stuttgarter Verlages erschienen. Mit einem großen Hauptteil zur deutschen Literatur richtet es sich vor allem an Germanistinnen und Germanisten. Seine Spanne reicht vom Hildebrandslied der althochdeutschen Sprache bis zur Gegenwartsliteratur.

Aber es verfügt auch über einen nicht zu verachtenden Teil zu internationaler Literatur. Alle großen Namen finden sich in dem Buch, wenn auch manchmal mit unerwarteten Werken. Majakowski etwa mit „150 000 000“ oder Handke mit der Lehre der Sainte-Victoire als poetologisches Manifest – statt der bekannteren Langsamen Heimkehr.

Alles gesagt, ohne etwas zu verraten

Jeder guter Leser wünscht sich beim Durchblättern eines Buchs wie diesem natürlich vor allem eines: mehr Zeit. Um die leider kaum vorhandene besser zu nutzen, griff ich nach der ersten Durchsicht – mit Bleistift alle (wenigen…) gelesenen Bücher ankreuzend – auch direkt zu einem Wälzer. Tom Jones ist als nächstes dran, beschloss ich. Über ihn informiert die „Leseliste“ kompakt, ohne einen Hauch vom Inhalt zu verraten:

Roman in 6 Bänden, der humorvoll-realistisch die Entwicklungsgeschichte eines Findelkindes vorführt; Prototyp des realistischen Bildungsromans.

Mit solchen kurzen Schnipsel ist in dem Reclam-Band selbst alles gesagt. Dann kann und muss es an den Text gehen. Das weiß die „Leseliste“ und leistet es für Prosa so gut wie für Lyrik und Sangdichtung. Sie sind mit einem überraschend hohen Anteil vertreten. Daher liegt auf meinem Nachttisch jetzt neben Fielding auch Properz, daneben Günter Eich, daneben Georges Algabal. Ein Lächeln huschte außerdem über meine Lippen, als ich die Prinzessin von Clèves entdeckte. Die hatte ich schon vor zwei Wochen mit viel Freude gelesen.

Die Leseliste. Kommentierte Empfehlungen. Hg. Sabine Griese, Hubert Kerscher, Albert Meier. Reclam 2020. 199 Seiten. 6 Euro. (Bestellung)

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