Conrad Ferdinand Meyer: Der römische Brunnen

Conrad Ferdinand Meyer: „Der römische Brunnen“

Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“ ist so etwas wie ein prä-symbolistisches Dinggedicht.

Lebt der Brunnen in diesem Text? Fast könnte man es meinen, denn seine Schalen und Fontänen verteilen das Wasser so intuitiv und beinahe menschlich, dass man glauben mag, der Brunnen sei mehr als nur ein Objekt. Was diesen Eindruck auslösen könnte, analysieren wir heute in unserer Gedichtinterpretation.

Kurze Auslegungen von Gedichten der deutschen und englischen Literaturgeschichte erscheinen regelmäßig auf diesem Blog. Diese und weitere Interpretationen werden auch bald als Lektürehilfen für Schüler, Studierende und andere Interessierte in der App verfügbar sein.


Conrad Ferdinand Meyer: Der römische Brunnen

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
        Und strömt und ruht.


Interpretation des Gedichts von Conrad Ferdinand Meyer

„Der römische Brunnen“ hat eine längere Entstehungsgeschichte hinter sich: Insgesamt sieben Fassungen gibt es von dem Gedicht. Die bekannteste oben stammt von 1882. Meyer nahm sich einen echten Brunnen zum Vorbild, die Fontana dei Cavalli Marini in der Villa Borghese in Rom.

Wie sie hat auch der Brunnen im Gedicht drei Wasserschalen. Sie sind in den acht Versen die Stationen des Wasserstrahls, der im ersten Vers „[a]ufsteigt“ (V. 1). Das so von Beginn an personifizierte Wasser gießt zuerst die erste „Marmorschale“ des Brunnens voll, welche daraufhin „überfließt“ (V. 3) und das Wasser so „[i]n einer zweiten Schale Grund“ gelangen lässt. Die Richtung des Wassers von einer ersten, oben gelegenen Schale in einer zweite darunter wird so verdeutlicht.

Der zweite Teil des Gedichts ab dem 5. Vers entwickelt dann eine philosophisch grundierte Beziehung zwischen den drei Schalen und dem Wasser, das sie immer wieder befüllt und sie daraufhin verlässt. Denn auch die zweite Schale wird irgendwann zu voll und „gibt“ (V. 5) der letzten Wasser ab. Dies geht immer so weiter: „Und jede nimmt und gibt zugleich.“ (V. 7) Dieser ewige Kreislauf mündet in einem ästhetisch wirksamen Paradoxon – „Und strömt und ruht“. (V. 8) Mal strömt das Wasser von einer Schale in die nächste, mal harrt es für einige Augenblicke in einer aus.

Dynamik und Statik

Meyer wird der Brunnen durch diese vermenschlichte Eigenschaft des Wassers zu einem Symbol für eine Eigenschaft der Welt. Dessen Bedeutung könnte man so formulieren: Das Leben ist von Wandel geprägt, nie steht es still. Aber weil sich dabei auch zugleich vieles wiederholt – Lebensläufe, Jahreszeiten, Gefühle und vieles mehr – gibt es in dieser Dynamik wenn nicht etwas Statisches, so doch zumindest Permanenz.

Das Leben ist eine Antithese: Es will sich erhalten, schreitet aber gerade darin immer weiter voran. Sie versucht er mit dem Brunnen als Sinnbild einzufangen. Und gerade in ihr liegt seine Schönheit. Dass Meyer dies in „Der römische Brunnen“ erkannte, macht ihn zu einem Verwandten des Symbolismus, der in schönen Dingen aufgrund solcher Paradoxa nur noch das schöne sehen wollte, um sich an dieser Eigenart der Welt und des Lebens zumindest erfreuen zu können. Ein anderes Gedicht, das dieser Weltansicht nahe ist, stammt von Stefan George, heißt „komm in den totgesagten park und schau“ und wurde hier auf Poesi ebenfalls vorgestellt.

Foto: Pixabay

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