Epoche im Fokus: Expressionismus (ca. 1910-1925)
Jeden Monat wird auf dem Poesi-Blog eine bestimmte Epoche oder Stilrichtung der deutschen Literatur beleuchtet. Dieses Mal im Fokus: Der Expressionismus.
Expressionismus auf einen Blick
- Ästhetik des Hässlichen, Wilden, Ungeordneten
- Themen: Krieg, Fortschritt und (emotionale) Subjektivität
- Gestaltungsmittel: Bildhaftigkeit (z. B. vermenschlichte Landschaft), Wortschöpfungen, Reihungsstil, Intensität = Qualität
- Grundtonus: Es soll die Wahrheit, nicht die Wirklichkeit gezeigt werden
Gattungen: Lyrik, Drama, Groteske, Roman
Themen und Motive: Liebe und Leidenschaft, Wahnsinn, Gefühle, Ängste, Flucht aus dem Alltag, Suche nach Traumwelten, Ekstasen, Sinnlichkeit, Anonymität der Großstadt, Industrialisierung, Fortschritt/Überforderung, Politik, Weltuntergang
Wichtige Vertreter: Gottfried Benn, Alfred Döblin, Georg Heym, Jakob van Hoddis, Georg Trakl, Heinrich Mann, Else Lasker-Schüler, Franz Werfel
Einige Hauptwerke: „Schöne Jugend“ (Gottfried Benn, 1912, Gedicht, Morgue), „Der Gott der Stadt“ und „Der Krieg“ (Georg Heym, 1911, Gedichte), „Weltende“ (Jakob van Hoddis, 1911, Gedicht), „Weltende“ (Else Lasker-Schüler, 1905, Gedicht), „Der Untertan“ (Heinrich Mann, 1914, Roman), „Grodek“ (Georg Trakl, 1914, Gedicht), „Der Weltfreund“ (Franz Werfel, Gedicht)
Unterschied zum Impressionismus: Beim Impressionismus steht das Aufgreifen eines Momentes und seiner Eigenschaften im Fokus. Er ist wie seine Beschreibung oft flüchtig und kurzatmig. Der Expressionismus hingegen dient dem Autor als Bühne des subjektiven Ausdrucks, von Gefühlslagen oder sogar ganzen Lebensansichten. Die Texte sind deshalb oft bildhaft und gefühlsintensiv(er).
Die Literatur der Expressionisten basiert im Allgemeinen auf drei Säulen. 1. dem Aufbegehren gegen das Bürgerliche/Reaktionäre. 2. dem Auseinandersetzen mit dem Krieg/Elend. 3. ab 1918 zunehmend auf der Thematik des (technischen) Fortschritts innerhalb der Gesellschaft (Großstadtleben, Modernität, Schnelllebigkeit).
Expressionismus: Ein neuer Weg – mit Gefühl
Expressionistische Werke waren aufgrund der Fülle an Ereignissen zu jener Zeit vielfältig. Das Themenspektrum reichte von der Stadt über Krieg bis hin zu Technik und Vergänglichkeit. Die Expressionisten verstanden sich als eine Generation, die künstlerisch einen neuen Weg des Lebens suchte. Auch der sozial orientierte Kampf gegen Missstände und Ungerechtigkeit beeinflusste ihre Werke maßgeblich.
Die Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten bei vielen Menschen zu einem Gefühlscocktail, der geprägt war von Verlorenheit und Überforderung. „Expressionismus“ meint in diesem Kontext das Ausdrücken von solchen Gefühlen von innen nach außen. Autoren jener Zeit wollten mit expressionistischer Schreibkunst ihre inneren Beweggründe und Gemütslagen dem Publikum offenbaren.
Neuer Rhythmus, neue Bilder, neue Syntax
Dafür wandte man sich bewusst von altbewährten Techniken ab. Stilistische Mittel wie Wortschöpfungen, eine besondere Rhythmik – die zerstörerisch wie der Krieg erscheint – in Kombination mit generell abgehackter Ausdrucksweise und einer assoziativen Sprechtechnik sind Gemeinsamkeiten zahlreicher expressionistischer Texte. Werke weisen zudem nicht selten eine Abwesenheit von Satzzeichen und Syntax – kurz: von Ordnung – auf.
Epochentypisch war zudem die Zuhilfenahme der Techniken Schnitt und Montage. Eindrücke, Motive wurden gesammelt und neu kombiniert. Sprachlich bedeutet dies den Aufbau neuartiger Bilder, welche aber genauso schnell wieder verschwinden, in sich zusammenkrachen. Dadurch wirken die Sprache und die Anordnung von erzeugten Bildern oft willkürlich und entziehen sich des Öfteren jeglicher Logik. Sozialer Grund hierfür sind die Entwicklungen in Industrie und Gesellschaft, einhergehend mit einem zunehmenden Gefühl der Entfremdung. Jeder Teil eines literarischen Textes soll, so meint Alfred Döblin, für sich selbst stehen können, um dieses Gefühl abzubilden.
Die Epoche in einem Zitat
„Weh dem, der sterben sah. Er trägt für immer / Die weiße Blume bleiernen Entsetzens.“
Georg Heym
Gedichtbeispiel
Weltende (1911)
von Jakob van Hoddis
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Gedichtanalyse von Weltende
Das Gedicht Weltende besteht aus zwei Strophen à vier Versen. Die erste Strophe ist mit einem umarmenden Reim strukturiert, die zweite mit einem Kreuzreim. Weltende weist den für den Expressionismus typischen Reihungsstil auf: Es ist eine Aneinanderreihung von Bildern ohne direkten Sinn vorhanden. Darüber hinaus wird der Zeilenstil verwendet: Die einzelnen Verse des Gedichtes scheinen nicht miteinander zusammenzuhängen.
Deshalb kann man Weltende auch als ein sogenanntes Simultangedicht verstehen. Das bedeutet: Manche der Vorgänge im Text könnten bei genauem Hinsehen simultan, also gleichzeitig, ablaufen – der Hut fliegt vom Kopf, während ein Geschrei durch die Lüfte hallt und die Dachdecker abstürzen. Weil sie zeitgleich passieren, erscheinen die Geschehnisse auch wenig zusammenhängend. Generell wirkt „Weltende“ dadurch sehr abgehackt und durcheinander. Dies repräsentiert die innere Verfassung der Literaten und Menschen zu jener Zeit.
Ambivalenz von Anfang bis Ende
Die Verse des Gedichts wirken apokalyptisch und teilweise unrealistisch, abstrakt. Es erhält zudem durch die Worte „liest man“ einen distanzierten und teilnahmslosen Charakter. Aber auch dieser hält sich nicht immer durch.
Andere typische Themen des Expressionismus wie der Fortschritt und seine Tücken („Die Eisenbahnen fallen von den Brücken“, V. 8) werden nämlich auch in einem leicht süffisanten Ton behandelt. Im Vers „Dem Bürgertum fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ kritisiert van Hoddis überdies das Spießbürgertum, das durch die neuen Verhältnisse in Probleme gerät. Weltende ist also vor allem in seiner Ambivalenz, in seiner Vieldeutigkeit und in seinem fragmenthaften Anreißen vieler Themen, ohne dass ein konkretes Weltbild oder eine Moral kommuniziert wird – sondern Eindrücke und Gefühle erzeugt werden – typisch expressionistisch.
Weitere Informationen und Gedichte
Dieses und viele weitere Gedichte des Expressionismus können natürlich auch in der Poesi-App nachgeschlagen werden.
Foto: Franz Marc – Der Tiger (1912)